Tollwut

Die Erkrankung

Pathogenese

Virusausbreitung im Organismus

Das Tollwutvirus gelangt innerhalb weniger Stunden oder erst kurz vor Ende der Inkubationszeit aus dem Muskelgewebe in die Nervenendigungen und breitet sich ausschließlich über die Nervenbahnen zentripetal zum Gehirn aus. Nach der Virusvermehrung im Gehirn findet eine zentrifugale Wanderung auf Nervenbahnen in periphere Organe, wie Speicheldrüse, Auge und Haut, statt. Die Speicheldrüse ist das primäre Organ für die Virusausscheidung. Die Inkubationszeit beträgt in etwa 75% der Fälle 1 bis 2 Monate, es können aber auch einige Tage bis zu 7 Jahre sein. Die Länge der Inkubationszeit hängt unter anderem von der in die Wunde eingebrachten Virusmenge ab und ist umso länger, je weiter die Bissstelle vom Zentralnervensystem entfernt ist.

Neuropathologie

Da sich das Tollwutvirus der Neurotransmitter Acetylcholin, Glutamat, Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) und Glycin bei seiner Ausbreitung als Rezeptor zu bedienen scheint, kann es zu Veränderungen in der Funktion der Neurotransmitter kommen. Die Beeinträchtigung der neuronalen Funktionen führt zu keinen gravierenden pathologischen Veränderungen des Gehirns, wie sie eigentlich bei der Schwere der Tollwuterkrankung zu erwarten wären. Perivaskuläre Infiltrate sind die häufigste histologische Veränderung, die vorwiegend aus Lymphozyten und Monozyten bestehen. Sie finden sich überwiegend im Hirnstamm, der Brücke, der Medulla, dem Rückenmark, den Basalganglien und dem Cortex.

Symptome wie Teilnahmslosigkeit, Angstzustände, Erregungszustände und andere Verhaltensstörungen werden durch die Affinität des Tollwutvirus zum limbischen System hervorgerufen. Ein verändertes Verhalten, wie auch autonome Störungen, sind charakteristisch für funktionale Änderungen bestimmter Areale im Gehirn, welche den Hippocampus, den Hypothalamus, verwandte limbische Strukturen und den Hirnstamm betreffen. Nach Issacson können das limbische und neokortikale System als die Strukturen angesprochen werden, die einen modulatorischen Einfluss auf das Großhirn haben, und die Verhaltensaktionen mit den ankommenden Informationen abstimmen.

Läsionen im Gebiet des ventromedialen Kerns des Hypothalamus verursachen eine extreme und andauernde Wut gegen alles Lebende und selbst tote Gegenstände, wie sie für die Tollwut charakteristisch ist. Läsionen im Corpus amygdaleum und der umgebenden periamygdalen Region dagegen führen zur Teilnahmslosigkeit. Hierdurch können Betroffene nicht mehr artgerecht auf Signale ihrer Artgenossen reagieren und werden sozial isoliert. Gegenteilige Effekte können entstehen, wenn sich im Corpus amygdaleum oder dem nahegelegenen Stirnlappen epileptisch aktive Herde entwickeln. Bei einem Anfall kann es zu unkontrollierbarer, unterschiedlich lange andauernder Aggression kommen.

Die Hydrophobie, also die Angst vor der Flüssigkeitsaufnahme beginnt oft mit einem Zittern der Hand, wenn der Patient ein Glas zu den Lippen führt. Sie nimmt in der Weise zu, dass sogar der Anblick von Flüssigkeit, der Ton fließenden Wassers oder sogar nur Worte, die mit Trinken in Verbindung stehen, Spasmen auslösen. Da schon die Übersetzung von Symbolen des Trinkvorgangs zur Auslösung der Spasmen führt, scheint der neokortikale Mantel direkt involviert zu sein.


Klinische Diagnostik und Krankheitsverlauf

Anamnese

Ein kürzer oder länger zurückliegender Aufenthalt in einem Land mit endemischer Tollwut oder ein Biss sollten anamnestisch beachtet werden. Bei dieser Anamnese und einer unklaren neurologischen oder psychiatrischen Erkrankung sollte auch an Tollwut gedacht werden. Drei Todesfälle wurden in letzter Zeit erst post mortem vom Pathologen diagnostiziert. Auch ist die Angabe einer Bissverletzung keine Voraussetzung für das Vorliegen einer Tollwut. Sie fehlte bei 42 von 707 Tollwutfällen in Thailand und bei einer Vielzahl von Todesfällen in den USA. In den USA scheinen diese durch unbemerkte Expositionen mit Fledermäusen bedingt zu sein. Deren Zähne verursachen winzige, kaum sichtbare wie durch Stecknadeln verursachte Hautverletzungen. Das inokulierte Tollwutvirus kann sich intradermal vermehren.

Initiale Symptome

Die allgemeinen initialen Symptome geben keinen Anhalt für das Vorliegen einer Tollwut. Bei einem Kind ohne Bissverletzung wurden am ersten Tag der Erkrankung Schläfrigkeit, Teilnahmslosigkeit, abdominale Schmerzen, Anorexie, Rachenschmerzen und Schmerzen auf der linken Seite des Nackens, Rhinitis und bilaterale Konjunktivitis und am nächsten Tag Fieberzacken und Verhaltensänderungen mit Halluzinationen, Schwierigkeiten beim Stehen, Insomnia und Verweigerung der Flüssigkeitsaufnahme beobachtet.

Pathognomonisch sind Brennen, Taubheitsgefühl, Stechen, Schmerzgefühl an der Bissstelle oder an einer völlig anderen Stelle des Körpers. So spürten 2 Tollwutpatienten ein Stechen in den Ohren nach dem Biss in einen Zeh. Dagegen waren bei dem letzten Tollwutpatienten in Deutschland bereits zu Beginn der Erkrankung Hydrophobie und Hypersalivation ausgeprägt. Computertomographie und Liquoruntersuchung waren unauffällig.

Neurologische Erkrankung

Nach Stunden oder einigen Tagen beginnt die neurologische Phase der Erkrankung mit objektiven Symptomen des Nervensystems. Nach Hemachudha haben in Thailand zwei Drittel der Tollwutpatienten eine enzephalitische und ein Drittel die paralytische Form der Tollwut. Bei der enzephalitischen Form kommt es vorwiegend zu Funktionsausfällen des Gehirns, bei der paralytischen Form zu Veränderungen an Nerven des Rückenmarks und peripheren Nerven.

Enzephalitische Form

Diese Form führt meistens innerhalb von 7 Tagen oder auch in 2-3 Wochen zum Tod. Drei Kardinalsymptomkreise entwickeln sich während der akuten neurologischen Phase:
  • Wechselnde Bewußtseinsstörung: Der mentale Status wechselt zwischen Stadien fortschreitend schwerer Agitation mit Perioden relativ normalen Verhaltens oder Depression. Plötzlich kann der Patient ohne Vorwarnung einen konfusen und desorientierten Eindruck machen. Dieses bizarre Verhalten dauert meist nur wenige Minuten. Der Patient kann sich anschließend nicht an das Vorkommnis erinnern. Mit fortschreitender Krankheit wird die Verwirrung immer schwerer, wilde Bewegungen und Aggression gehen schließlich in nachlassendes Bewußtsein und Koma über.
  • Phobische Spasmen: Aero- und Hydrophobie kommen bei allen Patienten mit enzephalitischer Form vor. Sie erscheinen aber nicht in allen Phasen der Erkrankung. Die Phobien verschwinden bei Eintritt des Komas. Statt dessen treten spontan Spasmen des Atmungstraktes auf, ohne dass es auslösender Stimuli bedarf.
  • Dysfunktion des autonomen Systems: Während des Stadiums der Konfusion können die Pupillen dilatiert sein. Es kommt zu erhöhter Speichelbildung mit bis zu 1,5 l Speichel pro Tag und exzessivem Schwitzen.

Paralytische Form

Die Symptomatik bei Patienten mit paralytischer Tollwut ist schwer gegenüber dem Guillain-Barre-Syndrom abzugrenzen. Phobische Spasmen treten in 50% der Fälle auf, die übri­gen Symptome der enzephalitischen Form zum Ende der Krankheit.

Terminales Stadium

Tollwut ist nach Krankheitsbeginn immer tödlich. Symptome seitens des Respirationstraktes und Kreislaufinsuffizienz sind die primären Todesursachen. Vorher kommt es zu erniedrigtem oder erhöhtem Blutdruck, der häufig therapeutisch nicht beeinflußbar ist, was für eine myokardiale Beteiligung spricht. Der Tod tritt meist durch Herz-Kreislauf-Versagen ein.

Virologische Labordiagnostik

Intra vitam ist die virologische Labordiagnose unbefriedigend, da die Antikörperbildung häufig ungenügend ist. Ein Virusnachweis kann aus Speichelproben, ggf. aus Hautbiopsien und wegen der geringeren Viruskonzentration seltener aus Kornealabstrichen geführt werden. Post mortem bereitet der Virusnachweis im Gehirn keine Schwierigkeiten. Pathologisch-histologisch sind in etwa 75% der Fälle virushaltige Negrikörperchen vor allem im Ammonshorn und Hippocampus nachzuweisen. Isolierte Virusstämme können gegebe­nenfalls molekularvirologisch mit monoklonalen Antikörpern gegen das Nukleokapsidprotein des Tollwutvirus oder mit der Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) epidemiologisch dem geographischen Herkunftsland zugeordnet werden.